Warten auf Nichts
Warten auf Nichts

Warten auf Nichts

Oft ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass die Welt sich noch dreht. Vom Mond betrachtet scheint es fast so, als wäre unser schöner Planet ein ganz eigener komplexer Organismus, die großen Städte pulsieren und wirken wie Dioden, die mal stärker und mal schwächer leuchten, während die Weltmeere ruhig und leise um die Kontinente herumfließen. In diesem Bild sind wir Menschen die Atome und Elektronen, die sich wie programmiert hin- und her bewegen. Wie fest wir in unserem Alltagstrott gefangen sind, konnte auch Maria beobachten, die täglich mit dem Zug zur Arbeit fährt und der es manchmal vorkommt, als wäre sie in einer ewigen Schleife gefangen.

Manchmal beobachtete Maria die Menschen und ihre Gewohnheiten: Jeder war doch irgendwie anders auf seine Art. Der alte Mann, der jeden Morgen die Neuigkeiten in der Zeitung las, die Massen an Schülern, die sich gegenseitig ihre Spiele und Fotos auf dem Smartphone zeigten. Die Frau, die im Winter fleißig an ihrem Pullover strickte und im Sommer kleine Tragetaschen. Der „Manager“, der schon früh morgens die ganze Fahrt lang telefonierte, der „Einsame“, der mit Kopfhörern an der Zugtür zur Musik nickte, die junge Studentin, die jeden Tag wieder ein paar Seiten mehr von ihrem dicken Roman gelesen hatte und so viele Persönlichkeiten mehr. Besonders aufgefallen war Maria aber ein Junge, der immerzu einfach nur lachend im Zug saß und nichts tat. Manchmal schloss er die Augen, grinste aber munter weiter.

Eines Morgens wollte Maria wissen, weswegen der Junge so fröhlich war und suchte das Gespräch mit ihm: „Hey, mir ist aufgefallen, dass du auf der ganzen Zugfahrt nie etwas machst. Weder hörst du Musik, noch habe ich dich jemals an deinem Smartphone tippen sehen. Ist dir nicht langweilig?“.

Der Junge lachte Maria an und antwortete mit einer angenehmen Stimme: „Weißt du, ich wäre froh, wenn mir in meinem Leben einmal langweilig wäre. Das ist auch der Grund, warum ich nichts tue“.

„Ich verstehe nicht ganz, willst du damit sagen, dass du viel zu tun hast, aber die Zeit im Zug trotzdem nicht nutzt?“ wunderte sich Maria verdutzt über die ungewöhnliche Antwort des Jungen.

„Genau so sieht es aus“, grinste der Junge, „sieh dich hier im Abteil nur um, jeder ist immer beschäftigt, egal ob er etwas zu tun hat oder sich nur die Zeit vertrieben will. Es gibt so viele Serien anzusehen, Bücher zu lesen, Musik zu hören, dass wir hunderte Leben benötigen würden, um alles anzusehen, was uns interessiert. Zeit ist so kostbar geworden, dass jeder sie nur irgendwie nutzen, ja sie fast ausquetschen will wie eine Zitrone. Was aber komisch ist: Egal, wie gut wir unsere Zeit nutzen, wir werden doch nicht glücklicher. Vielmehr werden wir unzufrieden, reden wir uns doch ein, wir hätten mehr von unserer Arbeit erledigen können. Wir sind gestresst, weil wir die ganze Zeit auf unserem Handy herumgetippt haben, anstatt uns einfach mal zu entspannen und unser Leben zu reflektieren.

Deswegen habe ich mich dazu entschieden, jeden Tag während der Zugfahrt die Ruhe zu genießen, wenn ich keine Verpflichtungen habe. Ich freue mich an so vielen Dingen und schaue einfach nur zu, wie alles um mich herum pulsiert. Manchmal mache ich ein paar Minuten meine Augen zu und spüre, wie schön es ist, gesund zu sein. Es genügt mir dann, wenn mein Herz munter schlägt und meine Blutkörperchen eilig umherhasten, während ich vollkommen zur Ruhe komme. Warum gönnen wir uns so selten eine Auszeit, eine kleine Verschnaufpause inmitten der Hektik der Städte und der ganzen Hast? Ich weiß, dass sich die Erde sowieso schon viel zu schnell dreht, ich warte auf nichts.“

In diesem Moment bremste der Zug langsam runter, bis er schleichend den Zielbahnhof erreichte.

„Ich wünsche dir einen schönen, schaffensreichen Tag“, sagte der Junge und ging gemütlich aus der Tür des noch leise schnaubenden Zugs.

Maria blieb noch ein paar Sekunden auf ihrem Platz sitzen, bevor auch sie den restlichen Fußweg zur Arbeit antrat.

„Auf welchem seltsamen Planeten wir doch leben“, dachte sie leise bei sich, „alles scheint so geregelt, wie in einem funktionierenden Kreislauf, nur wir Menschen drehen manchmal im wahrsten Sinne des Wortes durch. Warum können wir uns nicht auch ausrichten am Puls der Zeit? Warum sind fünf Minuten Wartezeit für uns verschwendet, während kleine Kinder in derselben Zeit sofort beginnen Spiele zu spielen oder sich an neuen Dingen zu erfreuen?“.

An diesem Tag hatte sich Maria vorgenommen, die Welt wieder mehr wie ein Kind zu sehen und zu staunen über die Wunder dieser Welt, und mögen sie auch noch so kurz und klein sein. Und als sie am nächsten Tag wieder gegenüber des Jungen Platz nahm und die ganze Fahrt über nicht sagte, merkte sie, wie sich ein breites Lächeln über ihr Gesicht breit machte.

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