Der kleine Leo – Weg für immer
Der kleine Leo – Weg für immer

Der kleine Leo – Weg für immer

Und es zeigte das Kalenderblatt, dass es wieder Juni geworden war. Die letzten Tage war es immer wärmer geworden und Leo konnte sich nicht mehr erinnern, wann es zum letzten Mal so richtig dunkel gewesen war. Jeden Tag ging er bereits zu Bett, bevor die Sonne komplett untergegangen war, meistens aber war der Himmel schon blutrot gefärbt und die Grillen in der Wiese neben Leos Zimmer zirpten ihn in den Schlaf.

Leo hatte sich immer gefragt, wo denn die Sonne immer genau untergeht und wie es dort wohl aussehen würde. Wahrscheinlich blieb es einfach hell, wenn man der Sonne nur lang genug nachfolgen würde.

„Papa, warum muss ich eigentlich immer so früh ins Bett gehen?“ fragte Leo eines Abends enttäuscht, zu gerne hätte er an diesem Tag noch länger draußen gespielt. „Das ist ganz einfach Leo: Wenn es dunkel wird, gehst du ins Bett. Du weißt ja vom Winter wie die Dunkelheit aussieht, das ist im Sommer nicht anderes, nur dass es später dunkel wird, das hat mit den Jahreszeiten zu tun. Wenn du im Sommer länger wachbleiben würdest, würdest du am Tag darauf später aufstehen und nochmal später ins Bett gehen. Das würde so lange gehen, bis du nur noch im Dunklen leben würdest, und das willst du ja auch nicht, oder?“, sprach sein Vater mit ernstem Blick und Leo dachte im Bett noch ein wenig über seine Worte nach. Tatsächlich wäre das ziemlich blöd, wenn es immer dunkel sein würde.

Am nächsten Tag saß die Familie abends zu Tisch, als Leo plötzlich verkündete: „Ich gehe heute noch weg“. Opa schaute ein wenig verdutzt und antwortete daraufhin „Soso, das ist ja interessant, und wie lange willst du weggehen?“.

Leo überlegte kurz und sagte „Für immer! Ich habe schon alle Sachen gepackt, die ich in der Zeit so brauche“.

Leos Vater wurde ein wenig zornig und fragte Leo laut: „Ich habe dir doch gestern Abend noch gesagt, dass du im Bett bist, wenn es dunkel wird. Du bleibst schön daheim“.

Trotzig sah Leo seinen Vater an und antwortete: „Ja genau, wenn es dunkel wird gehe ich ins Bett! Deswegen gehe ich einfach der Sonne nach, dann wird es nicht mehr dunkel und ich muss nicht mehr ins Bett gehen!“.

Opa lachte kurz auf, zwinkerte Leos Vater zu und meinte dann: „Da hat Leo recht, wenn es nicht mehr dunkel wird muss er auch nicht mehr ins Bett. Dann wünsche ich dir eine gute Reise und vielleicht kannst du uns ja eine Karte schicken“.

„Das mache ich gern!“ sagte Leo zufrieden, als er begriff, dass er jetzt für immer wach bleiben könnte. Auch eine Karte hatte er schon einmal geschrieben und abgeschickt, dies sollte also auch funktionieren.

So machte sich Leo auf dem Weg in Richtung Westen, denn dort ging die Sonne immer unter. Er hatte einen kleinen Wanderstock aus Holz, welchen ihm Opa damals geschnitzt hatte und einen kleinen Rucksack, in den er einige von seinen Spielzeugen gesteckt hatte, falls ihm die nächste Zeit doch einmal langweilig werden sollte. Gottseidank hatte er seine Sonnenbrille dabei, denn die niedrig stehende Sonne tauchte fast schon den ganzen Horizont in einem hellen Licht ein, sodass Leo nicht einmal richtig erkennen konnte, was ihn denn die nächsten Metern so erwartete.

Nach einigen Minuten fing Leos Magen plötzlich laut an zu knurren: Er hatte vorher vergessen etwas zu Abend zu essen, als er seine Sachen für die Reise packte. Auch wurde er so langsam durstig und erst jetzt fiel ihm auf, wie bequem die Ausflüge mit Mama doch immer waren. Seine Mama hatte immer an alles gedacht: einige große belegte Brote, ein paar Äpfel, einen leckeren Schokoriegel und Apfelschorle versüßten jede Unternehmung, ob es nun der Zoobesuch oder die Sonntagswanderung in die Berge war.

Doch so schnell wollte er nicht aufgeben, schließlich war Leo doch vor kurzem erst losgegangen und hatte noch einen weiten Weg vor sich. Nach wiederum einigen Minuten Wanderung passierte etwas Unerwartetes: Der rote Kreis am Himmel senkte sich drohend immer weiter nach unten und war schon bis zur Hälfte abgetaucht, als es immer dunkler wurde! Leo konnte es gar nicht glauben und fing an, plötzlich ganz schnell in Richtung der untergehenden Sonne zu laufen. Er rannte und rannte, doch es half alles nichts: einige Augenblicke später konnte Leo einfach nicht mehr, viel zu erschöpft war er und musste verzweifelt feststellen, dass er hungrig und durstig alleine irgendwo auf einem Feldweg in der Dämmerung stand. So hatte er sich das Ganze mit Sicherheit nicht vorgestellt! Eine kleine Träne floss Leos Wange herunter, schließlich wusste er nicht, was er jetzt machen sollte: Im Dunklen würde er den Weg nach Hause gewiss nicht mehr finden.

Auf einmal ertönte eine laute Stimme hinter ihm: „Leo, Leo, da bist du ja!“. Leo sah, wie seine Eltern aus dem dunkelroten Sonnenlicht auf dem Fahrrad auf ihn zukamen. „Scheint so, als wäre dein Plan nicht ganz aufgegangen“, lachte Leos Vater und strich durch sein wuscheliges Haar. Jetzt fing Leo richtig an zu weinen, aber sein Vater tröstete ihn sofort: „Sei nicht traurig Leo, wir fanden dein Vorhaben sehr mutig. Du hattest sogar Recht, wenn du schnell genug laufen würdest, dann würde es nie mehr dunkel werden. Allerdings kann kein Mensch so schnell laufen, denn das wäre so schnell, wie die sich Erde dreht! Ich hoffe, du hast erkannt, dass es manchmal keinen Sinn macht mit dem Kopf durch die Wand zu laufen. Ab und zu gibt es Momente im Leben, an denen man einfach umkehren muss.“

Leo blickte zu seinem Vater auf und sagte mit weinerlicher Stimme: „Aber ich wollte doch einfach nur ein bisschen länger wach bleiben“.

Der Vater überlegte kurz, blickte zu Leos Mutter herüber, nickte kurz und sprach dann: „Deine Mutter hat sich heute wirkliche Sorgen gemacht, wir möchten nicht, dass du einfach alleine von zu Hause weggehst und ich glaube du hast auch eingesehen, dass das wirklich gefährlich werden kann. Dennoch wollen wir dir ein Stück entgegenkommen, denn auch dein Mut gehört belohnt! Ab sofort darfst du abends eine Stunde länger wach bleiben, wenn du dafür einen Mittagsschlaf hältst, wie hört sich das für dich an?“.

Leo strich seine Träne aus dem Gesicht, fing an zu lächeln und sagte: „Das geht in Ordnung und ich verspreche, dass ich niemals mehr für immer weggehen werde“.

Jetzt verstand Leo auch, dass sich manche Dinge im Leben nicht verändern lassen und dass es am Ende des Tages immer dunkel wird.

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