Die alte Dorflinde
Die alte Dorflinde

Die alte Dorflinde

Immer wieder, wenn er morgens mit dem Fahrrad zum Bäcker fuhr, stach Max die alte Dorflinde ins Auge: obwohl sie vor vielen Jahrzehnten von einem Blitz gespalten wurde und innen hohl war, stand sie immer noch majestätisch in der Mitte des ruhigen Bauerndorfes.

Die Alten erzählten oft Geschichten, dass die Linde bereits im Mittelalter als Treffpunkt für die Dorfbewohner genutzt wurde und magische Kräfte hatte, aber das glaubte Max nicht wirklich. Auch wenn der dicke Baumstamm mit den langen Ästen irgendwie zum Verweilen einlud konnte er sich nicht vorstellen, dass ein so alter Baum verhext sein könnte.

Eines Tages im Sommer war Max mit seinen Freunden beim Fußball spielen auf einem Bolzplatz im Nachbarort, als sich plötzlich die Wolken gefährlich zuzogen. Seine Mutter hatte ihn bereits gewarnt, dass ein schweres Gewitter aufziehen würde und so hatte er ihr versprochen, dass er rechtzeitig losfuhr, bevor es zu stürmen begann. Sofort packte er seinen Lederball, verabschiedete sich von seinen Freunden und stieg auf sein klappriges Fahrrad und fuhr Richtung Hause, als die ersten dicken Regentropfen vom Himmel flogen.

Bereits nach wenigen Metern verwandelten sich die dicken Regentropfen zu weiß-grauen Hagelkörner, die nun wie Eisklumpen auf Max fielen. Er kam etwa bis zur Mitte seines Dorfes, als der Niederschlag unerträglich wurde: er musste sich schnellstmöglich irgendwo unterstellen und warten, bis zumindest der Hagel aufgehört hatte. Mittlerweile hatte es auch noch begonnen zu donnern und blitzen und der Himmel krachte und flackerte zum prasselnden Hagelschauer. Max erkannte in einigen Metern eine Birke und stellte sich gegen die Windrichtung neben den jungen Baumstamm. Max war erleichtert, denn der Unterstand schien geeigneten Schutz zu bieten. Als er wieder etwas klarer sah konnte er einige Meter von ihm entfernt die alte Dorflinde erkennen, die ihn im Hagelsturm wie unter Tränen anlächelte. Max lächelte zurück, spürte er doch ein ganzes Stück Vertrautheit und wähnte sich nun in Sicherheit.

Plötzlich vernahm er eine leise Stimme, die flüsterte „Komm hier rüber zur Linde“. Max dachte, dass er sich verhört hatte und ignorierte das Hirngespinst. Sicher war es nur der starke Sturm gewesen, der in diesem Moment mit seinem Verstand gespielt hatte.

Doch nach einigen Sekunden erneut die leise Stimme „Du bist nicht in Sicherheit, komm besser rüber hier zur Linde“. Max zögerte einige Sekunden, dann nahm er seinen Mut zusammen und sprintete zur alten Linde rüber. Dort angekommen konnte er tatsächlich im hohlen Baumstamm trockenen Unterschlupf finden: viel angenehmer war es hier und der Wind winselte lediglich nur noch vergeblich an der rauen Baumrinde des alten Dorfbaums.

Kaum hatte sich Max einige Sekunden erholt ertönte auf einmal ein riesengroßer Knall und er drehte sich erschrocken um: Ein Blitz hatte in die Birke eingeschlagen, die er noch kurz davor zum Schutz aufgesucht hatte. Diese brannte nun lichterloh und war wie ein Scheitel Holz in zwei große Hälften gespalten. „Was wäre nur passiert, wenn ich immer noch dort gestanden wäre?“ fragte sich Max mit entsetzter Miene.

Mit diesem Schock hatte das Unwetter auch bereits seinen Höhepunkt erreicht und der Hagel verwandelte sich wieder zurück in leichten Regen, als die Dorffeuerwehr mit lautem Sirenengeheule eintraf und das Feuer an der Birke mit einer dicken Schaumdecke einhüllte.

„Max, da bist du ja“, sagte Richard, Max‘ Nachbar und Vorstand der Dorffeuerwehr, der jetzt zur Linde eilte, „deine Mutter hat sich schon große Sorgen gemacht, und wohl zurecht wie man sieht. Hättest du den die Birke als Unterschlupf gewählt wärst du jetzt wohl nicht mehr am Leben“.

Max überlegte kurz, ob er von seinem Erlebnis erzählen sollte und beichtete: „Richard, da war etwas ganz Seltsames: Ich war davor bei der Birke gestanden, als mir auf einmal eine Stimme flüsterte, dass ich unbedingt zur alten Linde rübergehen sollte. Das war alles so merkwürdig echt für mich!“.

Richard blickte kurz zur Baumkrone der Linde rauf, schwieg dann einige Sekunden nachdenklich und sagte: „Das ist wirklich sehr seltsam Max. Vor ungefähr 300 Jahren gab es einmal einen Jungen in deinem Alter namens Baltasar Kasper. Er wurde damals von einem Blitz erschlagen, als er sich bei einem schweren Unwetter unter die alte Linde stellte, seitdem ist sie hohl. Du findest sein Grab noch drüben auf dem Friedhof, es ist eines der ältesten noch erhaltenen Gräber. Es scheint wohl, als hätte Baltasar zumindest dieses Mal mit seiner Wahl richtig gelegen.“

Max blieb noch einige Minuten wie versteinert vor der Linde stehen. Dann flüsterte er leise „Danke Baltasar“ und verabschiedete sich von der alten Dorflinde, welche ihm ab diesem Tag ab immer magisch erscheinen würde.

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