Der Schläfer
Der Schläfer

Der Schläfer

Erschrocken nahm Michaela den Anruf der Intensivklinik an, Hoffnung und Angst trugen in diesem Moment einen grausamen Kampf in ihrer Brust aus: Endlich gab es zumindest Neuigkeiten von ihrem Mann, der sich nun bereits seit über 8 Jahren im Koma befand.

Der 09.11.2013 hatte ihr Leben komplett verändert, dieses Datum hatte sie auf ihren Fuß tätowiert mit dem Versprechen, dennoch bis zum Ende an der Seite von Stefan zu bleiben. Immer wieder die enttäuschende Nachricht, dass sich nichts an seinem Zustand geändert hatte: Angeschlossen an Schläuche wurde er künstlich ernährt und die Ärzte räumten nur eine geringe Chance von 5% ein, dass doch eines Tages noch das Wunder geschieht, und Michaelas Mann aus dem ewigen Schlaf aufwacht.

Es war die Woche vor Weihnachten im Jahre 2021 und Michaela war gerade dabei ihre Wohnung für sich und ihre Kinder zu dekorieren, als ihr Handy ihr Herz zum Pochen brachte.

„Hallo Frau Huber“, erklang eine kratzige Stimme am anderen Ende der Leitung, „Doktor Brandwein hier am Apparat.“

Michaela holte tief Luft, innerlich schon darauf vorbereitet erneut die bittere Absage entgegenzunehmen, als die Tonlage des Doktors plötzlich höher wurde: „Wir-wir haben wirklich keinerlei Erklärung dafür, was heute passiert ist, aber ich darf Ihnen voller Freude Ihr persönliches Weihnachtswunder verkünden: Ihr Mann ist heute Vormittag aus dem Koma aufgewacht, es geht ihm gut und es scheint so, als hätte er einfach nur all die Jahre geschlafen! Wir haben alles überprüft und keine Bedenken, dass Sie Ihren Mann heute noch abholen können. Ich gehe davon aus, dass Sie dieses Jahr ganz gut mit meinem Anruf leben können, und freue mich auf Ihren Besuch gleich“.

Michaela durchströmte ein unbeschreibliches Gefühl: ihr wurde heiß und kalt zugleich, laut schrie sie vor Freude durch das gesamte Wohnhaus und ließ sofort alles stehen und liegen. Sie konnte sich während der Fahrt zur Klinik nicht vorstellen, dass sich schon jemals ein Mensch so auf einen Moment gefreut hatte wie sie gerade, Sie drehte das Radio mit den nervigen Weihnachtsliedern auf Anschlag auf, machte die Fenster runter und genoss die eiskalte Dezemberluft in vollen Zügen.

Wie würde ihr Mann wohl sprechen? Was würde er für Gedanken haben? Ob er sich noch an alles erinnern konnte? Kurz hatte Michaela Zweifel, dass ihr Stefan sie gar nicht mehr wiedererkennen würde, aber dann fiel ihr wieder ein, dass die Ärzte keinen Mangel feststellen konnten. Ihr Mann hatte ohnehin immer einen bemerkenswerten Dialekt, ohne dass er damit angegeben hatte, er war sanftmütig und versuchte immer eine möglichst versöhnliche Atmosphäre zu schaffen. Ob er die Welt überhaupt wiedererkannte? Immerhin war viel passiert in den letzten Jahren, alles war irgendwie ein wenig aus den Fugen geraten und in wenigen Wochen änderte sich mehr als früher in einigen Jahren.

Hektisch stürmte Michaela in den Empfang der Intensivstation, als sie wie aus allen Wolken fiel: Stefan stand lächelnd am Eingang und wartete bereits auf sie, so unscheinbar und selbstverständlich, als ob er sich nur kurz einen Schokoriegel am Automaten geholt hatte. Beide fielen sich in die Arme und begannen vor Freude zu weinen. Für Michaela verwandelte sich all der Schmerz der letzten Jahre in diesem Moment in einen unbeschreiblichen Rausch aus Glücksgefühlen, mit dem sie neben Stefan am liebsten noch die ganze Welt umarmen wollte.

„Das hört sich jetzt vielleicht verrückt an, aber ich würde jetzt am liebsten zu unserem Lieblingsitaliener, bevor du mir alles erzählst, ich war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr dort“, lachte Stefan mit einem freudigen Blick in den Augen.

„Das wäre auch meine Idee gewesen“, antwortete Michaela und senkte ein wenig ihren Kopf, „leider ist das zurzeit aber nicht mehr so einfach. Es ist so, dass es einen neuartigen Virus gibt und nur diejenigen in ein Restaurant können, welche dagegen geimpft wurden. Das mit dem Virus ist eine ziemlich lange Geschichte, aber jedenfalls können wir für heute maximal eine Pizza mit nach Hause nehmen, da du ja noch nicht geimpft bist“.

Stefan schaute ein wenig skeptisch, willigte aber dann dem Alternativvorschlag ein und erfuhr auf der Fahrt von Michaela im Schnelldurchlauf eine Menge über das Coronavirus, Varianten, Inzidenzen und sämtliche Schlagworte, welche jeden anderen Menschen der Welt wohl zurecht unbändig entnervt hätten. Es hatte aber tatsächlich etwas von einem Alptraum, als Stefan überall auf den Straßen Menschen mit Masken herumlaufen sah.

„Wieso gehen die Menschen denn überhaupt die ganze Zeit noch raus, wenn dieses neue Virus so gefährlich ist, dass zwingend eine Maske vorgeschrieben ist? Und warum werden diejenigen ausgegrenzt, welche sich gegen diese neue Impf-Methode entschieden haben? Oder sind diese Menschen mit den Masken allesamt Leute ohne Impfung?“, fragte Stefan seine Frau mit verwirrter Mimik.

„Hör mal, das ist nicht so einfach zu erklären, eigentlich ist es mir auch ein wenig unangenehm über all diese Dinge zu reden. Ich habe mich ehrlich gesagt bereits schon so daran gewöhnt, dass es für mich normal geworden ist. Man zieht die Maske auf und fertig, das ist ja nicht so schlimm, wenn ich dadurch jemanden schützen kann, oder?“, antwortete Michaela ein wenig entnervt. Sie hatte schon lange keine Diskussion darüber zugelassen, weil solche Diskussionen meistens eher zu Streit führten, aber ihrem Ehemann konnte sie diese Fragen natürlich auch nicht verwehren.

Auch Stefan spürte wohl, dass eine solche Diskussion irgendwie einen faden Beigeschmack hatte und versuchte das Thema zu wechseln.

„Na gut, dann erzähl mir doch wenigstens, wie es so in der Welt, in Europa weitergegangen ist! Was hat sich da so getan?“. Und wieder erzählte Michaela eine ganze Menge von Bankenrettungen, dem Austritt der Briten aus der EU, der angespannten Lage gegenüber Russland seit 2014, den Migrantenströmen, der Klimadebatte und der politischen Extremisierung in die Lager links und rechts.

Stefan schien erschlagen von der Großzahl der Themen, die wie in einer geplanten Abfolge auf die Welt eingeprasselt waren.

„Das ist ja Wahnsinn, mir kommt es vor, als wäre ich 50 Jahre im Koma gelegen. Warum hat sich Deutschland überhaupt in so viele Themen eingemischt? Wollten wir nicht neutral bleiben? So wie du es erzählst hört es sich so an, als wären wir gezwungen zu jeder politischen Frage Stellung zu beziehen. Können wir es gerade wegen unserer Vergangenheit machen wie die Schweiz?“, äußerte sich Stefan mit fragendem Blick.

„Naja wir sind ein viel größeres Land, wir müssen doch auch irgendwie Verantwortung übernehmen. Außerdem ist es auch da schwierig etwas zu sagen, weil man nie weiß welche Meinung der andere dazu hat“, entgegnete Michaela.

„Und übernehmen wir auch die Verantwortung für die Konsequenzen, dass wir uns überall einmischen? Darüber sollte man zumindest diskutieren dürfen finde ich, umso schlimmer ist es, wenn man auch wirklich so viel Angst vor der Meinung der anderen haben muss. Wir Menschen haben doch dafür eine Sprache, damit wir uns austauschen und unseren eigenen Standpunkt überdenken können. Und was mache ich, wenn ich keine Meinung zu einem bestimmten Thema habe? Ich habe 9 Jahre einfach verschlafen Micha, wie würden denn die Leute reagieren, wenn ich einfach überhaupt nichts über manche Dinge weiß?“, stellte Stefan in den Raum, woraufhin seine Frau nachdenklich wurde und kurz überlegte.

„Wahrscheinlich würden dich die Menschen für dumm halten, denn eigentlich werden all diese Dinge so oft in den Medien gezeigt, dass man gar keine andere Wahl hat, als sich damit zu beschäftigen. Weißt du, die Technik hat einen riesigen Sprung gemacht: Obwohl schon 2013 viele soziale Netzwerke existiert haben hat diese Dynamik nochmal um ein ganzes Stück zugelegt. Über die Massenmedien informieren sich die Leute stündlich über alle Vorkommnisse in der Welt, es gibt überall Artikel und Kommentare zu so gut wie allen politischen und gesellschaftlichen Themen. Ohnehin braucht man sein Smartphone für fast sämtliche gesellschaftlichen Veranstaltungen, weil der Gesundheitsnachweis digital ist und als QR-Code vorgezeigt werden muss“, führte Michaela weiter aus.

Stefans Blick versteifte sich jetzt und er blickte starr auf die leicht verschneite Fahrbahn, während nur das Scheibenwischerquietschen die kurze Stille unterbrach.

„Weißt du was Michaela, ich habe schon immer daran geglaubt, dass alles im Leben einen Sinn hat. Ich kann nicht nachvollziehen, wie schwer die letzten 9 Jahre für dich waren, denn für mich fühlte sich alles an wie ein langer Schlaf, aber vielleicht hat all dies auch etwas Gutes! Ich sehe ganz klar, dass sich die Welt über die letzten Jahre Stück für Stück immer weiter auf einen gefährlichen Abgrund zubewegt hat.

Wo ist das Miteinander geblieben? Die Akzeptanz, dass jemand andere Ansichten hat als ich selbst und sich auch traut diese zu äußern? Wollen wir wirklich alle gleich sein, wie Maschinen programmiert auf das, was gerade am unauffälligsten erscheint? Oder wollen wir nicht jedem seine Vorstellung vom Leben gönnen, solange er nicht die unsere in Gefahr bringt?

Natürlich kann ein Smartphone praktisch sein, aber sollte nicht der Mensch die Technik nutzen und nicht umgekehrt? Seit ich aufgewacht bin sehe ich überall nur triste Gesichter, wo ist die Lebensfreude hin, wo das Besondere im kurzen Glücksmoment?

Stattdessen lassen wir es zu, dass wir gegeneinander aufgehetzt werden mit der Vorstellung, dass jeder zu allem immer eine Meinung haben muss! Ich will mich nicht rechtfertigen für meine Fehler, die mich erst zum Menschen machen! Denn was ist der Mensch letztendlich? Wir sind nicht Gott, auch wenn das wohl manche die letzten Jahre gedacht haben! Wir sind Lebewesen, die verbunden sind mit dieser Welt und jeder von uns ist ein kleines Puzzlestück eines großen Ganzen, das wir nicht sehen, sondern nur fühlen können.

Vielleicht sind wir manchmal schwach für all die schlauen Geräte, die immer alles wie geplant ausführen, aber wir sind stark darin die Erde mit all ihren Wesen so zu akzeptieren, wie sie ist, im Guten und im Schlechten! Lass uns zurückgehen zum Einfachen, Natürlichen, ich will wieder Mensch sein, genau wie vor 9 Jahren!“.

Kurz vor ihrer Wohnung war Michaela in der kleinen Siedlung mitten auf der Straße stehengeblieben und sah zu, wie jetzt viele kleine Schneeflocken auf die Frontscheibe ihres Autos fielen. Es lag ein seltsames Knistern in der Luft, als wäre die Welt für einen klitzekleinen Moment für die beiden stehengeblieben, vielleicht hatte sie Stefan sogar gerade ein wenig zurückgedreht.

„Ich kann dir gar nicht sagen wie froh ich bin, dass du wieder da bist!“, hauchte Michaela und sah dem Mann tief in die Augen, der all das bewahrt hatte, was wir uns die letzten Jahre Stück für Stück entrissen hatten.

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